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Über Krieg

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Rote Kreuz gegründet. Damals waren die Opfer der Kriege zu 99 Prozent Angehörige des Militärs, die auf Schlachtfeldern starben. Heute verlieren in kriegerischen Auseinandersetzungen zu 90 Prozent Zivilisten ihr Leben und ihre Existenzgrundlagen. Laut Bericht des Heidelberger Instituts für Konfliktforschung aus dem Jahr 2012 hat es vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zu diesem Zeitpunkt 388 militärische Kriege gegeben. Darunter wurden 38 hochgewaltsame Konflikte identifiziert, 20 dieser Auseinandersetzungen erreichten die höchste Intensitätsstufe des Krieges. Das Jahr 2011 bot die kriegerischste Atmosphäre seit 1945. Allein ihr War on Terror hat die Amerikaner seit dem Jahre 2001 vier Billionen Dollar und 225.000 Menschenleben gekostet. Und dort, wo Konflikte noch nicht eskaliert sind, bestimmt allzu oft der drohende Waffengang die Logik des Alltags.

Diese Situation begünstigt natürlich den Waffenhandel. Seriösen Schätzungen zufolge haben im Jahre 2010 die Staaten insgesamt mehr als 1,6 Billionen Dollar für das Militär ausgegeben – das wären 2,6 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktes. Das Volumen für den internationalen Waffenhandel schätzte man 2009 auf 50 Milliarden Dollar im Jahr. Ein Großteil dieses Geldes fließt zu den Marktführern der internationalen Rüstungswirtschaft: den USA, Russland, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien, China. Hinzu kommt, dass der Waffenhandel mehr als 40 Prozent der Korruption im gesamten Welthandel ausmacht. Der Journalist Andrew Feinstein konstatiert in einem aktuellen Überblick: „Waffenhandel erfolgt in geheimem Einverständnis von Staats- und Regierungschefs, Geheimdienstleuten, führenden Industrieunternehmen mit ihrer Spitzentechnologie, Geldgebern und Banken, Lieferanten, Mittelsmännern, Geldwäschern und gewöhnlichen Kriminellen.“i Diese Verwicklungen beweisen Scheinheiligkeit und Heuchelei als politische und strategische Kriegstreiber erster Ordnung. Unser frommer Wunsch, es handle sich dabei lediglich um eine Attitüde verzeihlicher Unaufrichtigkeit, ist eine rabenschwarze Fehleinschätzung.

Neben militärischen Konflikten und Waffenhandel hat sich der Terrorismus als Global Player etabliert. Häufig sind die Aktionen von Invasionen oder Bürgerkriegen nicht mehr zu unterscheiden, zuweilen sind vollkommen neue Formen der Bedrohung entstanden, wie an den autonomen Zellen des Al-Qaida-Netzwerks deutlich geworden ist. Ganze Staaten und Landstriche sind infiltriert. Durch den zeitgenössischen Terrorismus ist der Krieg jedoch auch ortlos geworden. Er kann unvermittelt überall auftreten, ob in New York, Bali oder Madrid. Eine neue Entwicklung besteht darin, dass vermehrt auch Einzelne ihrer Umgebung den Krieg erklären, wie man in Norwegen und Belgien sehen konnte.

Kriegerische Auseinandersetzungen mit einem weitreichenden Zerstörungspotenzial finden wir mittlerweile überall. Auch in der virtuellen Welt ist der Krieg längst ausgebrochen. Staaten, Firmen und Interessengruppen agieren mit Viren und Trojanern, mit Ausspionieren und dem Lahmlegen von Servern. Auf der privaten Ebene der sozialen Netzwerke mehren sich Fälle von erschreckendem Mobbing. Nähern wir uns dem Krieg aller gegen alle, den der Philosoph Thomas Hobbes als Gegenbild zum vernünftigen Gemeinwesen wie den Teufel an die Wand malte? Im Unterschied zur Vergangenheit reicht es heute nicht mehr, die militärischen Aktionen im engeren Sinn in den Blick zu nehmen, um ein Bild der herrschenden Konflikte zu bekommen. Wir beobachten neue Formen der Kriegstreiberei, nicht zuletzt im ökonomischen Bereich. Es ist höchste Zeit, die universalen und globalen Folgeerscheinungen unseres Verhaltens in ihrem sozialen und ökologischen Zerstörungspotenzial zu bilanzieren und sich diese Ergebnisse zu Herzen zu nehmen. Die erschreckende Einsicht lautet: Der dritte Weltkrieg ist schon längst in vollem Gange.

Ein weiterer Indikator, dass wir in scheinheilig verklärten Kriegszuständen leben, ist die unbestreitbare Existenz einer riesigen Schattenwelt krimineller Unternehmungen. Laut Schätzungen der Weltbank entsprechen die durch Korruption entstehenden jährlichen Kosten einem Wert von circa 2,6 Billionen Dollar. Andere Schätzungen berechnen einen Umsatz von 1,5 Billionen Dollar pro Jahr für die weltweite organisierte Kriminalität. Im Drogenhandel wird nur der umgesetzte Wert an Kokain mit 88 Milliarden Dollar angegeben. Allein in Europa erzielt die Prostitution im Zusammenhang mit Menschenhandel Einnahmen von jährlich rund drei Milliarden Dollar. Die Einkünfte, die Schlepper durch den Transport von Migranten erwirtschaften, belaufen sich auf circa 6,7 Milliarden Dollar. Beim Rohstoffdiebstahl liegen allein die Erträge aus dem illegalen Verkauf von Nutzholz bei 3,5 Milliarden Dollar. Und in der Cyberkriminalität werden für Kinderpornografie circa zwei Milliarden Dollar umgesetzt.

Diese jährlichen Umsätze der kriminellen Schattenwirtschaft sind Hochrechnungen, da umfassende und eindeutige Berechnungen nicht zugänglich sind. Im Dunkeln bleiben auch die Kosten der Rechtssysteme, die Aufwendungen für Prävention sowie für öffentliche und private Sicherheit. Rechnet man nicht zuletzt die Opportunitätskosten für Opfer und gezwungenermaßen auch für Täter hinzu, lassen sich zweistellige Billionensummen erahnen. Trotz dieser Brisanz ist das Thema weitgehend tabuisiert. Da sich nicht nur die legale Welt, sondern auch das Verbrechen im Zuge der Globalisierung beschleunigt, ist eine transparente Aufarbeitung jedoch unverzichtbar. Die großen Verbrecherorganisationen operieren schon längst in Netzwerken, wie multinationale Konzerne es tun. Mit enormen Investitionen in die legale Wirtschaft wächst auch der ökonomische und politische Einfluss der kriminellen Gruppierungen. Die Gefahr, dass die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität verschwimmen, ist offensichtlich. Es winken enorme Gewinne, die die Menschen an ihrer schwächsten Stelle herausfordern: der Gier.

In diesem Zusammenhang bewirken ganz automatisch auch Staats- und Finanzkrisen Szenarien, in denen große Teile der Bevölkerung in unzumutbare Existenzkämpfe gedrängt werden. In Griechenland wurde diese kriegerische Instrumentalisierung als Sippenhaft augenscheinlich. Oder will man ernsthaft behaupten, dass jeder Grieche ein schlechter EU- Bürger ist? Auch die verantwortungslose Vergabe von Krediten an nicht satisfaktionsfähige Schuldner durch amerikanische Banken belegt eine erbarmungslose Ausnutzung der Abhängigen. Ob nun Bürgerkrieg oder Finanztransaktion, wenn das Resultat zur unverschuldeten Obdachlosigkeit führt, ist der Anspruch auf Unversehrtheit nicht mehr gegeben. Selbst Arbeitnehmer, die jahrzehntelang in Pensionskassen eingezahlt haben, degradiert man zu Opfern, wenn ihre materiellen Zukunftsperspektiven durch Spekulation verspielt werden. Mir erscheint es legitim, all diese vorsätzlich herbeigeführten Zustände, die zur Existenzlosigkeit führen, als Ausdruck kriegerischer Aggression zu betrachten. […]

[…] Kommen wir am Schluss zum größten Kriegsschauplatz dieses Planeten. Das unvorstellbare Elend wird noch dadurch zynisch gesteigert, dass hier ein Krieg tobt, den niemand wahrhaben will. Auf der Erde leben sieben Milliarden Menschen. Für zumindest vier Milliarden von ihnen ist unser Wohlstand völlig außer Reichweite. Ihre Realität ist gekennzeichnet von Armut, Hunger und Chancenlosigkeit. Der Bioethiker Peter Singer konstatiert: „Zählt man die Armutsopfer der vergangenen zwanzig Jahre zusammen, kommt man auf mehr Opfer, als die Kriege, Bürgerkriege und Terrorregime des 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts von Hitler und Stalin, insgesamt gefordert haben.“ii Verhungernde Kinder, ausgetrocknete Landstriche, Epidemien, Elendsgettos – das sind ohnmächtige Stichworte des Grauens, die noch nicht einmal das riesige Heer der vollkommen Mittellosen erfassen. Damit gemeint ist jener beträchtliche Anteil der Weltbevölkerung, deren lebenspraktischer Horizont nichts weiter fokussiert als den nahen oder fernen Tod. Das, was wir „Welt“ in unserem Sinne nennen, betrifft eine Gruppe von zwei Milliarden Privilegierten, denen allein die Segnungen einer ganzen Zivilisationsgeschichte zur Verfügung stehen. Dieser unhaltbare Zustand wird noch von der Tatsache übertroffen, dass weltweit rund die Hälfte der Lebensmittelproduktion vernichtet wird. Von dem, was beim Verbraucher ankommt, landet in den Wohlstandsländern wiederum die Hälfte im Mülleimer.

Eine nüchterne Bestandsaufnahme unserer Gegenwart, in der die Würde des Menschen ernsthaft berücksichtigt wird – sein Recht auf Unversehrtheit und Selbstbestimmung ungeachtet der Herkunft, der Hautfarbe, des Alters und des Geschlechts –, kommt zu einem vernichtenden Ergebnis, nicht nur in den sogenannten Krisenregionen, sondern auch in den Enklaven des Wohlstands. Die seit Jahren in der Öffentlichkeit kursierenden Schlagworte des Kriegs der Kulturen, des Atomkriegs, der Ressourcen- oder Generationenkriege, der Klimakriege, des Cyberkriegs und die Rede vom Währungskrieg unterstreichen den Eindruck eines ausufernden globalen Krieges. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch Krieg und Frieden als Vexierbildiii, das je nach Betrachtungswinkel und Interessenlage zu unterschiedlichen Einschätzungen und widersprüchlichen Schlussfolgerungen führt. Unsere einzige Chance besteht nun darin, mithilfe eines gesunden Menschenverstandes zu versuchen, diesen einseitigen Beurteilungen aufrichtige, maßvolle und gültige Einschätzungen entgegenzusetzen. Je länger wir uns selbst belügen, desto mehr entziehen wir unserem Geist die Grundlage. […]

i Andrew Feinstein: Waffenhandel, Hoffmann und Campe, Hamburg 2012, S. 23; vgl. auch: Mark Thompson: „How to save a trillion dollars“, in: Time, Vol. 177, Nr. 16, 2011, S. 20.
ii Peter Singer: Leben retten, Arche Literatur-Verlag, Zürich 2010, S. 12.
iii Erläuterung im Kapitel „Über gesunden Menschenverstand“, S. 36 ff.