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Über Konkrethik

Betrachtet man eigene oder fremde Verhältnisse als Wetterphänomene, die man nicht beeinflussen kann, oder will man irgendeine Form der Verantwortung übernehmen? Schon einfachste Fragen der Lebensgestaltung und Berufsethik scheinen heutzutage die Unterstützung von Rechtsanwälten, Psychotherapeuten, Pressereferenten, Ernährungsberatern und Fitnesstrainern zu erfordern. Diese Lebenseinstellung stand mir allmählich bis zum Hals. Bereits im Jahre 2006, als ich an meinem Buch Goldkinder arbeitete, habe ich die Idee der Konkrethik entwickelt. Seit dieser Zeit beschäftige ich mich mit dem Versuch, eine allgemein zugängliche Grundlage für richtiges Handeln zu entwerfen. Ausgangspunkt waren emotionale und intuitive Eindrücke auf der Ebene des gesunden Menschenverstands. Zunächst wollte ich mir selbst helfen und eine konkrete Umsetzung ethischer Haltungen in der Praxis erarbeiten. Schnell wurde mir klar, dass es einer wirklichen Kunstfertigkeit und Selbstbeherrschung bedurfte, um endlich zu lernen, in vielen Situationen Nein zu sagen. Bei diesen ganz praktischen Selbstversuchen war es unumgänglich, Illusionen zu entlarven und Widersprüche zu entdecken.

Die neue Perspektive führte dazu, dass ich mich von Scheinheiligkeiten umzingelt sah. Ich musste meine Innen- und Außenwelt neu synchronisieren und kalibrieren. Unabweisbar wurde der Gedanke, dass es auch darum ging, bestimmte Dinge nicht zu tun, weil diese möglicherweise zum Nachteil anderer gereicht hätten. Der banale Satz „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ bekam unversehens eine praktische Bedeutung. Mir wurde bewusst, dass die wirkliche Freiheit nur im eigenen Handeln liegt – wenn es auch zu einer tatsächlichen Ausführung kommt. Ich konnte faktisch spüren, wie mein Gehirn in neue Bahnen gelenkt wurde. Immer wenn die Kraft nicht ausreichte, den inneren Schweinehund zu bewegen, griff ich auf mein konkrethisches Motto zurück: dictum factum – gesagt, getan, und kam mühsam einen Schritt weiter. Auf zunehmend entkrampfende Weise habe ich so das Potenzial eines gesunden Menschenverstandes immer deutlicher wahrgenommen.

Aber war das neu gefundene Instrumentarium auch auf so etwas Großes anwendbar wie die abhandengekommene Einheit zwischen Geist und Natur? Die Errungenschaften der Technik versetzen uns in die Lage, sowohl Geist wie auch Natur fundamental zu bearbeiten und zu verändern. Diese Prozesse unterliegen einem ständigen Wandel, der allem Anschein nach aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wie finden wir eine Lösung für dieses Dilemma? Ein gern verwendetes Zauberwort bei der Suche nach Antworten lautet: Wissen beziehungsweise Wissensgesellschaft. Diese vielversprechende Bezeichnung suggeriert, dass ausreichendes Erkenntnisvermögen vorhanden ist. Schauen wir uns die Wissensbasis am Beispiel der Ozonproblematik an, betreten wir wieder scheinheiliges Gelände. Die meisten Menschen wissen um die Bedeutung der Ozonschicht für unsere Lebenserhaltung und auch, dass diese gefährdet ist. Die Klimakonferenzen und ihre lächerliche Unverbindlichkeit hingegen zerreiben jede ernsthafte Maßnahme zu Staub. Offensichtlich ist unser verfügbarer Wissenshorizont keine Hilfe, unverzichtbare Aktivitäten umzusetzen oder Gewohnheiten zu verändern. Insofern sollten wir lieber von Informationen sprechen, die erst die Stufe von handlungsrelevantem Wissen erreichen, wenn sie verinnerlicht und angewandt werden. Auch avancierte Wissensgesellschaften bieten keine Garantie für richtiges Verhalten. Schon im Jahre 1934 resümierte der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper, dass unser Wissen ein kritisches Raten, ein Netz von Hypothesen, ein Gewebe von Vermutungen ist.

Im Spiegel unserer Informationen erscheint ein Ozonloch als etwas Abstraktes, und je abstrakter ein Phänomen für uns ist, umso größere Schwierigkeiten haben wir, ein umfassendes Verständnis zu erlangen. Wir kennen das Problem nicht nur aus der Naturwissenschaft oder der Mathematik, sondern auch in Bezug auf Finanzkrisen, Umweltkatastrophen oder die Politik. Das Abstrakte vollzieht sich im Kopf, während sich unsere Realität im Konkreten äußert. Da das Abstrakte in erster Linie einen geistigen Vorgang verlangt, scheint es grenzenlose Möglichkeiten zu geben, sich diesem zu nähern. In diesem Universum ist es leicht, Mut zu haben und waghalsig zu theoretisieren. Aber wer konkret etwas unternimmt, setzt sich der Überprüfung und dem Risiko aus. Den Trott einer dösenden Mehrheit zu stören, hinter die Kulissen der Machttheater zu blicken, aktiv gegen Missstände aufzubegehren – das erfordert weit mehr Mut und Charakter, als sich scheinheilig in abstrakten Vorschlägen und Ankündigungen zu verausgaben.

Konkret zu handeln heißt, Nägel mit Köpfen zu machen. Es bedeutet, scheitern zu können, Fehler zu begehen, Nebenwirkungen zu erzeugen, sich selbst zu überfordern oder Gegner auf den Plan zu rufen. Nur im konkreten Handeln zeigt sich, ob wir einer Sache gerecht werden, eine Tugend wirklich beherrschen und unsere Authentizität höher stellen als die Verführung durch das Scheinbare. In diesem Zusammenhang wird auch die Ethik leicht zum gefährlichen Terrain. Grundsätzlich hat das Gute und Wahre eine Menge Fans und Verehrer. Aber leider teilen sie sich in eine Minderheit konkret Ausübender und in eine Mehrzahl bloßer Liebhaber. Seit Jahrhunderten treiben wir in den Gezeiten ethischen Hoffens und Wünschens. Ein unabweisbares Fundament unseres Zusammenlebens sind sie nicht geworden, eher ein Relikt musealer Gewissensberuhigung. Daher brauchen wir eine Konkrethik, die sich aus der formalen Bewunderung löst und endlich die Stufe der praktischen Umsetzung erklimmt. Zu dieser Praxis gehört es auch, Passivität nicht als Neutralität zu interpretieren. Die Unterlassung des Guten hat, ebenso wie die Ausübung des Bösen, negative Konsequenzen.

Die Konkrethik kann eine Brücke schlagen zwischen Geist und Natur, Innen- und Außenwelt, Wissen und Verantwortung. Dazu gehört auch, dass wir erst verstehen, bevor wir den Anspruch erheben, verstanden zu werden. Die Konkrethik ist ein Seismograf, um die Verschiebungen der Scheinheiligkeit sichtbar zu machen. Bei der notwendigen Synchronisation von Innen- und Außenwelt eröffnen sich viele unlautere Interpretationen. Eine verlässliche Auskunft über uns selbst und das Spektrum der Taten, zu denen wir imstande sind, erhalten wir erst dann, wenn es konkret wird. Im Moment ist das Einzige, was zählt, das konkrethische Tun. Die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach hat gesagt: „Wer den Augenblick beherrscht, beherrscht das Leben.“ Nur wer einer zwielichtigen Gelegenheit widersteht, lernt seine Selbstbeherrschung und die Stärke seiner ethischen Grundsätze kennen. Es ist leicht, die Trockenübungen des Guten in der Theorie ablaufen zu lassen. Am Firmament der Scheinheiligkeit bleibt der Himmel ungetrübt. Die verschwommene Annahme der eigenen Unschuld stellt die Ampeln der Selbstkontrolle immer auf Grün. Im Talmud wird dieser Vorgang wunderbar beschrieben: „Fehlt die Gelegenheit zum Stehlen, glaubt der Dieb, er sei ehrlich.“ Es geht hier nicht darum, eine neue Ethik zu erfinden. Die wird seit Jahrtausenden entwickelt und verfeinert und bildet ein großartiges Gerüst für moralisches Denken. Die Konkrethik ist vielmehr ein eigenständiges Anwendungsmodell, das seine Leistungen aus der Sicht der erzielten Ergebnisse betrachtet und bewertet. In Verbindung mit einem gesunden Menschenverstand reduziert sie die unendliche Fülle möglicher Verhaltensweisen auf zentrale Perspektiven, die zügiges und nachvollziehbares Handeln möglich werden lassen. In diesem Sinne ist mit Konkrethik eine praktische Aufrichtigkeit gemeint, mit bestem Gewissen etwas verantwortungsbewusst zu Ende zu bringen und umzusetzen. Konkrethik manifestiert die Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns. Schon im Matthäusevangelium wird verkündet: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Darin steckt auch die konkrethische Botschaft, dass wir jeden Anfang besser begreifen, wenn wir ihn vom Ende her denken.

In diesem Sinne erschallt mittlerweile überall der Ruf nach Transparenz. Es ist jedoch zwingend notwendig, zwischen konkrethischer und strategischer Transparenz zu unterscheiden. Während die erste zu Recht nach lückenloser Aufklärung und prozessualer Klarheit verlangt, richtet sich die zweite in erster Linie nach den eigenen Interessen aus. Diese Form der Transparenz wird zwar inflationär beschworen, sie ist aber nichts anderes als der Wunsch nach Bestätigung eigener Interpretationen – und damit alles andere als konkrethisch, sondern scheinheilig. Diese bedrohliche Seite der Transparenzgesellschaft will alle Prozesse kontrollieren, steuern und berechnen. Sie ist der Ausdruck eines tiefen Misstrauens und ein Nachweis verlorenen Vertrauens. Im Umgang mit der Transparenzformel erleben wir einen Überfluss an Worten und Versprechungen im Schulterschluss mit einer kläglichen Ausbeute an Taten und Erfüllungen. Betrachten wir zum Beispiel die Diskussionen um die Managergehälter, hören wir viel Gerede, aber kaum Fakten. Im Umgang mit einer lautstark geforderten Transparenz, die davon ablenken soll, dass eigene Verpflichtungen nicht erfüllt werden, ist Wachsamkeit gefordert. […]